Es gibt einen Zug, der nach einem Klassiker der russischen Literatur benannt ist, welcher der Welt die Charaktere Anna Karenina und Andrei Bolkonsky geschenkt hat. Heutzutage fährt der Leo Tolstoi zwischen Helsinki und Moskau. Der Schriftsteller war seinerzeit Graf, von dem der Zug seine Traditionen geerbt hat: er verfügt über sein eigenes Monogramm und strahlt eine gewisse aristokratische Würde aus.
Abfahrt in Helsinki
Es ist früher Freitagabend. Helsinkis Hauptbahnhof ist ziemlich überlaufen - genau wie Leo Tolstois Roman “Krieg und Frieden”. Ich befinde mich am Seiteneingang der Elielinaukio Straße, von wo aus die meisten Menschen normalerweise in Pendlerzüge steigen.
Ich habe mich absichtlich für diesen Eingang entschieden, da er sich näher an der Gepäckaufbewahrung befindet, welche im Keller ist. Dort gibt es hunderte von Schließfächern verschiedenster Größen und mein Gepäck befindet sich in einem von ihnen. Die Preise für die Schließfächer variieren abhängig von der gewünschten Größe zwischen 4 und 8 Euro.
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Münzen sind die einzige Zahlungsmöglichkeit für die sichere Verwahrung deiner Taschen und Koffer, jedoch findet sich dank vorausschauender Designer ein Wechselautomat, welcher deine Scheine in Münzen verwandelt. Der Geldeinwurf sieht ein wenig merkwürdig aus, ist aber alles in Allem intuitiv bedienbar.
Gepäckaufbewahrung: Gled in Coins wechseln
Übrigens ist diese beeindruckende Gerätschaft auch äußerst hilfreich, sollte man eine Toilette gegen Bezahlung (ja, die gibt es noch!) nutzen. Diese befindet sich in der Nähe der Gepäckaufbewahrung und kostet 1 € (ja, sie nimmt ausschließlich Münzen). Dieses Mal passe ich und gehe die Treppe nach oben.
Bahnhof Helsinki Gepäckaufbewahrung
Das rege Treiben in der Haupthalle ist motivierend und aufmunternd. Menschen laufen herum. Menschen reden. Sie lächeln und lachen. Sie holen sich Snacks und Kaffee. Diese beschwingte Atmosphäre des täglichen Lebens kommt – wie üblich – zu keinem Ende. Genau wie ich, denn statt mich an einem Ort aufzuhalten, gehe ich Richtung Plattform.
Fun Fact: Genau von dort kann man, während man auf einen Zug wartet, die lokale Riesenrad des Linnanmäki Freizeitparks sehen. Gerade jetzt befindet es sich in seinem markantesten Zustand – das gesamte Bauwerk ist während der dunklen Tageszeit hell erleuchtet. Zunächst – bitte entschuldigt – verwechsle ich es mit dem SkyWheel Helsinki, dem größten Bauwerk seiner Art in ganz Finnland.
Apropos Finnland, Finnisch ist eine besonders spezielle Sprache und es ist nicht ungewöhnlich, wenn Infoschilder keine Übersetzung in andere Sprachen zulassen. Ein Grund dafür, dass jeder Reisende darauf gefasst sein sollte, sich allerhand Hilfsmittel bedienen zu müssen; wie zum Beispiel gesunden Menschenverstands, Scharfsinn und Kontext. Glücklicherweise hat dieses Schild am Bahnhof eine recht eindeutige Illustration, andernfalls hätte ich die Bedeutung des Textes niemals erraten:
Am Bahnhof keine Vögel füttern
Aber nun genug von literarischen Abschweifungen, mein Zug ist bereits hier, 25 Minuten vor Abfahrt. Er hat das für die Russische Bahn übliche rot und graue Design, mit seinem großen kyrillisch-basierten Logo. Es gibt einen Zugbegleiter in der Nähe jedes Waggons, die Dokumente und Fahrscheine überprüfen und die Passagiere willkommen heißen – was für sämtliche russische Züge üblich ist.
RZD Tolstoi Zug im Bahnhof Helsinki
Ich betrete Wagen 11 (ungefähr in der Mitte des Zuges) und gehe an Wänden und Fenstern entlang. Ich bemerke das spezielle Design der Türe: Sie lassen sich nicht zur Seite aufschieben, sondern werden wie eine normale Tür, wie sie in Häusern zu finden sind, nach außen geöffnet. Aber lasst uns über die Strecke sprechen – während ich es mir in meinem Abteil gemütlich mache.
Helsinki - Moskau. Die Route.
Der Leo Tolstoi Zug verlässt Helsinki um 17:44 Uhr. Auf dem Weg befinden sich acht Zwischenhalte. Manchen von ihnen sind formal und mit Grenzübergangsformalitäten verbunden, aber es gibt auch ein paar relativ lange, reguläre Zwischenhalte, bei denen man die Möglichkeit hat den Zug zu verlassen und sich die Beine etwas zu vertreten. Die Letzteren sind in Wyborg und Sankt Petersburg - für ungefähr jeweils eine halbe Stunde. Die gesamte Reise dauert ungefähr 15 Stunden und 30 Minuten.
Landkarte Zugstrecke Tolstoi Nachtzug Helsinki nach Moskau
Die Grenz- und Zollkontrolle beginnt gegen 20:30 Uhr (finnischer Zeitrechnung) in Vainikkala, wo die ersten Beamten den Zug betreten. Ein Zugbegleiter bittet die Passagiere darum, die Türen ihrer Abteile zu öffnen und alle Dokumente für eine Überprüfung bereitzuhalten.
Grenzkontrolle am Bahnhof Vainikkala
Der Bahnhof an dem alle mit dem Grenzübertritt verbundenen Offiziellen wieder aussteigen ist in Wyborg. Es ist 23:00 Uhr, Moskauer Zeit (plus eine Stunde). Das behördliche Verfahren wurde auf zurückhaltende und höfliche Art durchgeführt, auch wenn es erst jetzt möglich ist, sich vollends zu entspannen, den Komfort des Zuges zu genießen, das Bordrestaurant zu besuchen oder schlafen zu gehen.
Bahnhof Vyborg
Der nächste und gleichzeitig letzte längere Halt ist in Sankt Petersburg. Der Zug durchquert den Ladoga Bahnhof, welcher der modernste und abgelegenste der fünf innerstädtischen Bahnhöfe ist. Er wirkt recht geheimnisvoll in der eiskalten Winternacht und ist beinahe menschenleer, weshalb die Stille das einzige ist, was die langen, leeren Bahnsteige erfüllt.
Ladoga-Bahnhof in Sankt Petersburg
Aber ich sollte besser von der klirrenden Januar-Kälte zurück zu der Wärme meines Erste-Klasse-Schlafabteils kommen und euch zeigen, was sich darin noch alles befindet.
Die Innenausstattung des Leo Tolstoi
Es klingt beinahe ein wenig gruselig, aber ich befinde mich IM Leo Tolstoi. Auch, wenn der Zug selbst überhaupt nicht gruselig ist. Ich trete hinein und werfe einen Blick in den Raum, der mein Aufenthaltsort für die nächsten paar Stunden sein wird.
Tolstoi Nachtzug: Schlafwagenabteil
Das Abteil begrüßt mit einer kleinen Auswahl an Snacks und Getränken. Es stehen zwei Flaschen stilles Wasser, sowie ein süßes, kohlensäurehaltiges Getränk bereit, zudem ein Croissant, ein Joghurt, ein Apfel und diverse weitere essbare Snacks. Zusätzlich zu dieser Fülle an gastronomischen Köstlichkeiten erhalte ich ein heißes Abendbrot – welches im Ticketpreis enthalten ist – mit der Option mich zwischen Fleisch und Fisch zu entscheiden. Es wirkt etwas eigenartig, dass der Leo Tolstoi die Vegetarier unter uns zu vergessen scheint, doch abgesehen davon ernährt er seine Reisenden sehr gut.
Der Tisch wurde mit einer Blume dekoriert, welche selbstverständlich super süß ist. Außerdem ist er mit einer wirklich sehr nützlichen Steckdose ausgestattet.
Das Beste an diesem Tisch ist, dass er so einige kleine, nützliche Funktionen birgt, die er sehr gut versteckt. Die Design-Lösung – welche ich ein wenig unorthodox nennen würde – erlaubt dir, ihn als Waschbecken und Mülleimer zu verwenden. Die einzigen Schritte, die dazu unternommen werden müssen sind die Folgenden: Entferne nach und nach sämtliche Gegenstände von der Tischoberfläche; mache irgendwas mit der Tischdecke, welche dir irgendwie im Weg liegt; und öffne die Tischoberfläche, als wäre sie eine Art Deckel. Voilà! Nun kannst du deine Hände waschen.
Nun zu den Schlafmöglichkeiten des Raumes. Es gibt zwei Couches (nun, eigentlich gibt es vier, aber die Oberen sind abgeschlossen), welche einiges an Potenzial bieten, was die Transformation betrifft. Wenn man die Rückseite der Couch herunter drückt, erhält man ein komplett ausgestattetes Bett (Bettwäsche, ein Kissen und eine warme Decke sind für jeden Passagier vorhanden). Wenn die Rückseite der Konstruktion aufgeklappt ist, gibt es noch ein weiteres einklappbares Segment, welches ein paar Getränkehalter und einen Ort für Teller offenbart.
Bett im Tolstoi Nachtzug
Übrigens gibt es einen weiteren Getränkehalter. Man kann ihn an der Wand entdecken, wenn sich die Couch in Bett-Position befindet. Das Design dieser Vorrichtung ist ziemlich elegant gelöst.
Was haben wir noch alles? Ein paar Kleiderbügel, einen Temperaturregler, einen Knopf, um einen Zugbegleiter zu rufen, einen Lautstärkeregler für das Zug-interne Radio, einen Lichtschalter, einen Goodie-Bag mit Hausschuhen, einer Zahnbürste und einem Kamm, sowie eine russischsprachige Pressemappe mit einem Magazin namens “Better by train”. Lässt nichts zu wünschen übrig, oder?
Nun, vielleicht würdest du gerne ein paar Andenken kaufen? Es gibt ein ganzes Sortiment von denen! Zum Beispiel kann man ein Glas mit dem legendären Russische-Bahn-Griff (in zwei unterschiedlichen Ausführungen) oder kleine anthropomorphe Plüschtiere mit Zugführer-Outfit (niedlich!) kaufen.
Tolstoi Souvenirs
Jedenfalls treibt mich meine Neugier dazu, auch noch andere Teile des Zuges zu erforschen. Ich verlasse also das Abteil. Und ich erinnere mich glücklicherweise, die Plastikkarte mit dem Namen Leo Tolstois darauf, mitzunehmen – sie ist mein Schlüssel für die Türe.
Schlüssel für die Tür
Am Ende des Ganges befindet sich eine Toilette. Sie sieht recht ordentlich aus. Alles ist ordnungsgemäß und funktional. Flüssigseife und Papierhandtücher befinden sich an ihrem designierten Ort und der Spiegel ist sauber und spricht die Wahrheit.
Ich gehe weiter, an Stellflächen vorbei durch die mit Raureif bedeckten Bereiche zwischen den Waggons.
Nach einiger Zeit erreiche ich das Bordrestaurant. Es ist hell und nahezu leer. Der Bildschirm an der Wand eröffnet mir eine Welt russischer Popmusik-Videos. Die Bedienungen sind freundlich und geschwätzig, denn die seltenen Nacht-Besucher helfen ihnen wach und beschäftigt zu bleiben.
Tolstoi Speisewagen
Eine der hier arbeitenden Ladies erzählt mir ein interessantes Detail. Wusstest du, dass ein Herd im Zug nur während der Fahrt funktioniert? Nach langen Zwischenhalten benötigt er einiges an Zeit, um zurück auf Kochtemperatur zu kommen. Wer hätte das gedacht? Ich bin mir zwar nicht sicher, ob die für alle Leo Tolstoi Züge gilt, aber diese Information war mir völlig neu. Ganz egal, es ist schon recht spät und ich kehre zu meinem Platz zurück. Ich stelle nicht nur das Abteil-Licht, sondern auch meine Wenigkeit auf Nachtmodus.
Schlafwagen 'Nachtlicht
Moskau. Die Reise kommt zu einem Ende.
Es ist Morgen. Wir nähern uns der russischen Hauptstadt. Nachdem ich gut ausgeschlafen habe, fühle ich mich energiegeladen und konzentriert. Das ist womöglich der Grund dafür, dass ich eine andere Sache entdecke, die meiner Aufmerksamkeit zunächst entgangen war. Wie es sich herausstellt, hat die Türe meines Abteils ein Guckloch. Ist das nicht lustig?
Tolstoi Spion
Aber es bleibt nicht viel Zeit das Äußere Treiben durch das gewölbte Glas zu bestaunen. Um 09:19 Uhr erreicht der Leo Tolstoi den Leningrader Bahnhof. Sein Name bezieht sich selbstverständlich auf Leningrad, die ehemalige Bezeichnung für St. Petersburg (es gab einige Bestrebungen den Namen des Bahnhofs zu ändern, jedoch war keine von ihnen erfolgreich, was dazu führte, dass wir immer noch von den sowjetischen Zeiten gegrüßt werden). Jedenfalls verlasse ich den Zug mit einem guten Gefühl. Die Reise war in jeglichem Sinne angenehm und unmöglich, sie nicht zu genießen.
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Ich habe meine Fahrkarte eine Woche im Voraus bei der RZD erworben. Man kann ebenfalls Russiantrain (einfaches buchen), Infotrain oder VR dafür nutzen. Scheue dich nicht davor, Moskau im Winter zu besuchen und vergiss’ nicht, dass der Leo Tolstoi nicht einzig und allein der Name einer berühmten Person der Vergangenheit ist, sondern auch ein bequemer Zug, der bis heute noch fährt.
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